IN DER PRATSCH blickt in den Rückspiegel
Da hatten wir vor Jahresfrist unbedarft über ein turbulentes 2023 referiert. Und dann kam 2024 um die Ecke. Noch einmal gefühliger. Noch einmal greller. Noch einmal grenzenloser. Logisch, wenn man nach elf Jahren im fußballerischen Abflusskanal zurück ans Tageslicht darf. Tausend Mal niedergeschrieben, gebloggt, stadiongevlogt. Aber im schwarz-gelben Feuchtbiotop ist noch mehr passiert, was einen Rückblick wert ist. Also uns wert ist: Skurriles, Bedenkliches und Spannendes. Von uns wie immer völlig subjektiv ausgewählt und tendenziös kommentiert.
Der Ton kann über das Lautsprecher-Symbol in der Navigationsleiste wieder deaktiviert werden.
Januar
Das Jahr hat noch gar nicht richtig begonnen, da scheint es schon wieder für die Tonne. Weil man auf der Tivoli-Chefetage auf die schnurrige Idee verfällt, der kompletten Aachener Stadtgemeinschaft aus Bürgern, Sport, Brauchtum, Kultur, Wirtschaft, Politik und Kirchen locker-flockig den Stinkefinger zu zeigen und die Zunge rauszustrecken. Und zwar in einer einzigen formvollendeten Geste. Sich an diesem Tag gemeinsam mit Zigtausenden jeglicher Couleur gegen antidemokratische und menschenverachtende Rechtsaußentendenzen zu stemmen, empfinden die Herren als unzumutbar. Man wolle nicht zur Spaltung der Gesellschaft beitragen. Einer Gesellschaft, die sich in diesem Falle so ungespalten zeigt, wie selten zuvor. Als wenigstens Einige die Absurdität dieses Handelns begreifen und man panisch zurückrudert, ist das Kind bereits ganz tief im Brunnen versenkt. Die Öffentlichkeit ist entsetzt. Die wahren Spaltspezialisten vom rechtsextremen Verdachtsfall jauchzen. Und dem Verein wird eine Debatte aufgezwängt, die man eigentlich bereits seit langem erfolgreich beendet hatte.
April
Die Sippe soll wachsen. Und weil bei der Alemannia seit geraumer Zeit Hochtöne als neue Bescheidenheit durchgehen, sollen es am Ende insgesamt 12.000 Angehörige sein. Das würde immerhin einen rund 107-prozentigen Zuwachs bedeuten. Da so etwas nicht auf dem natürlichen Besamungsweg zu bewerkstelligen ist, starten die Familienoberhäupter heute eine ebenso markige wie extensive Akquise. Als etwa fünf Monate später der Deckel draufkommt, darf man getrost von einem Erfolg sprechen. Okay, die angepeilte Höhe wird gerissen. Doch 10.760 eingeschriebene Alemannen in tutto bedeuten All-Time-Vereinsweltrekord. Nie zuvor hatte der ATSV mehr Mitglieder. Selbst nicht zu unselig-aufgedonnerten Bundesligazeiten.
April
Mit Aufstiegen auf dem Chaiselongue bei Käseigel, Mon Cherie und Rotkäppchens Schaumwein kennt man sich aus. Damit geht man in Aachen routiniert um. Deshalb ist man überall in der Stadt pyro- und alkoholtechnisch generalstabsmäßig vorbereitet als Herr Arts gegen 21:20 Uhr im Kölner Süden zum Feierabend pfeift und die Wuppertaler Betriebsgruppe ihr Soll nicht erfüllt hat. Damit ist die Alemannia dem Viertligajoch vorzeitig entkommen. Ob Pontviertel oder Marktplatz: Überall fackelt, singt und überschäumt es dermaßen, dass im Vergleich dazu der Rosenmontag in Köln anmutet wie Exerzitien im Kloster Gnadenthal. Die allgemeine Friedlichkeit der Feierlichkeiten veredelt das Ganze. Dass dabei der Vereinsdirigent nicht zurückstehen will und eine zwar nicht ganz korrekte, jedoch immerhin präsidiale Lichtkunst zur Aufführung bringt: geschenkt.
Und die Chöre jubilieren. Okay, in diesem Fall ist es nur einer. Doch dafür ist dieser Sängerkreis eine Art All-Star-Truppe. Schließlich geben hier Veteranen der Öcher Tribünengeschichte Gassenhauer aus Jahrzehnten schwarz-gelber Liedtradition wieder. A capella. Live. Ungeschliffen. Exklusiv.
Mai
Einmal ist keinmal. Doppelt genäht hält besser. Sagt man doch so, oder? Jedenfalls wissen auch die Jungs der schwarz-gelben U17 ganz genau, wie’s geht und hauen entspannt die Sahne auf den Öcher Aufstiegskuchen. Indem sie ihre Kollegen aus Bergisch-Gladbach mit einem satten 8:0 zurück nach Jläbbisch ballern, machen sie ihre Rückkehr ins Fußballoberhaus fix. Vorzeitig und am Ende mit fünf Punkten Vorsprung. Die höchste Spielklasse heißt nun DFB-Nachwuchsliga und ist etwas verschlungen organisiert. Den Schützlingen von Coach Dennis Jerusalem wird’s schnuppe sein.
Mai
Das gemeinnützige diakonische Netzwerk WABe organisiert und steuert auch weiterhin das Merchandising der Alemannia. Die Unterschrift unter den entsprechenden Vertrag ist gesetzt. Damit bleibt die seit 2017 bestehende Sozialpartnerschaft bestehen. Zumindest für die kommenden zwei Jahre. Obwohl die dank des aktuellen Hypes noch einmal geboostete Lukrativität des Geschäftes auch ganz andere Akteure erotisiert haben dürfte. Wahrscheinlich jedoch mit einem limitierteren karitativen Ansatz. So, dass eine Abkehr von der Sozialpartnerschaft dann doch vielleicht allzu merkantil rübergekommen wäre.
Juli
Nur noch eine Woche bis zum Anpfiff zur ersten alemannischen Drittligasaison nach Äonen. Der Tagesbefehl lautet: Testpartie gegen die Koblenzer TuS. Nur hatte man misslicherweise noch gestern ein Tête-à-Tête mit den niederländischen Nachbarn aus Kerkrade. Für solch eine Doppelvorstellung entpuppt sich selbst der gern beklagte XXL-Kader als nicht XXL genug. Wie gut, dass man auf eine prima eingespielte Zwote zurückgreifen kann. Dass diese in der Kreisliga C hobbykickt, ist vernachlässigbar. Chefübungsleiter Heiner Backhaus himself hatte die Jungs gescoutet und verpflichtet. Also stehen an der schönen Mosel die Zehntligagrößen Sarfowaa und Osei-Wusu im Profikader. Im Laufe des Spiels werden dann noch die Sportskameraden Bulgan, Lauffenberg, Nowak, Schepp, Schumacher, Wefers und Witt gebracht. Sie alle machen ihr Ding prima und sind dem Oberligisten nur höchst knapp unterlegen.
August
Pardauz. Na, das nennt man dann ja wohl mal eine flagrante Duftmarke, die der Klassenneuling da setzt. Indem er einen der vermeintlichen Primusse gleich mal gepflegt auf den Hosenboden schickt und ihn in die Verzagtheit eines Bergeborbecker Sommerspätnachmittags entlässt. Besser kann’s ja gar nicht losgehen als mit einem souveränen Erfolg ausgerechnet auf dem Terrain eines ewigen Lieblingswidersachers. Da klingen die Glocken, da jubilieren die schwarz-gelben Heerscharen. Lediglich eine Legende bleibt es allerdings, dass der Coup das Ergebnis okkult-metaphysischer Kräfte sei. Freigesetzt durch die mysteriöse #zesame-Formel, die an diesem Tag über die Leibchen der Handelnden verkündet wird.
Bart Meulenberg
4.3.1976 – 15.10.2024
Oktober
In der gerne ach so schrecklich edelmännischen Jodel- und Trillergemeinde hat’s kräftig gerummst. Die selbst ernannten Branchenstars hängen sich ultramäßig raufend in den Haaren und tragen ihre Albernheiten ungehemmt auf dem Boulevard der Eitelkeiten zur Schau. Und wie es bei solchem Firlefanz dann eben so ist: Keiner will’s gewesen sein. Alle haben Recht. Der jeweils andere ist der Giftnickel. Worum es eigentlich geht, weiß sowieso irgendwann keiner so genau. Irgendetwas mit Mikrozeit und Headliner sein wollen. Eigentlich alles Pillepalle. Nur, wenn dann auch noch das Saalmanagement patzt, verzieht sich ein Teil des Ensembles eben mucksch und schmollend von der Bühne. So wie in diesem Fall die Ypsilon-Zehs. Dumm gelaufen für alle. Denn seit heute ist die Tonart im Laden wieder etwas mehr trallala.
November
Ganz ehrlich: Wir wollten uns eigentlich nicht schon wieder an kommandierter Fröhlichkeit abarbeiten. Ist auf Dauer ermattend. Doch dann wird den Tivoli-Zeremonienmeistern diese triumphale Würdigung zuteil: die Ernennung zu Ehrenrittmeistern der Pläsierbrigade. Recht so. Schließlich mussten sich die Beiden oft genug über das mit Fallstricken und Stolperdrähten ausgelegte gesellschaftspolitische Parkett quälen. Da ist das Brauchtümelnde fraglos das saloppere Habitat. Vielleicht kann man die heute verfestigten bilateralen Bande zwischen den beiden gar nicht so verschiedenen Kulturen noch weiter kräftigen. Zum Beispiel indem man Aachens obersten Kavalleristen eines Tages die Kommandantur über das Stadionmikro überlässt? Animateurserfahrung und Stimmungssicherheit bringt er zweifellos mit.
November
Wie lange haben wir darauf warten müssen? Wie oft mussten wir auf, wenn auch rührige, aber vor allem eben marginale Gästemöbchen blicken? Heute werden wir für die zu vielen Jahre der Tristesse entschädigt. Die Löwen aus der bajuwarischen Hauptstadt fluten zu Tausenden ihren Block. Sie füllen ihn bis auf den letzten Platz und färben ihn in hellblau ein. Ein Anblick und eine Atmosphäre zum Niederknien. Und vor lauter Aufsaugen, vor lauter Klößen im Hals vergessen wir über weite Teile des Spiels glatt, unseren Beitrag zu diesem Spektakel adäquat zu leisten. Verbuchen wir es unter Premierenangst und bleiben zuversichtlich, dass wir es bis zu den Gastspielen der Dresdner, Rostocker, Bielefelder und und und draufbekommen.